Der erste Höhepunkt der Higgs-Suche, oder: Wie man ein Teilchen findet

Ein Hörsaal von hinten im Publikum fotografiert, vorn eine bespielte Leinwand, zahlreiche Zuschauer, einige mit Laptop, schauen konzentriert nach vorn.

Der DESY-Hörsaal, in dem Physiker gespannt den Livestream vom CERN verfolgen. Foto: @JamieDass auf Twitter

Gerade komme ich vom „Public Viewing“ der Physiker am Hamburger DESY-Forschungszentrum, wo das CERN-Seminar mit Neuigkeiten von der Suche nach dem Higgs-Boson durch die beiden Experimente CMS und ATLAS live auf der Leinwand Übertragen wurde. Der Hörsaal war voll und am Schluss floss Champagner – ein gelungener Morgen für die ungewöhnlich fröhlichen Physiker vor Ort.

Aber größtenteils konnte meine Followerschaft auf Twitter doch nur mit einer amüsierten Distanz meine Tweets wie diese verfolgen:

Deshalb möchte ich an dieser Stelle mal darauf eingehen, wovon wir da eigentlich sprechen. Ich will mich darauf konzentrieren, wie solche Teilchen eigentlich gefunden werden – zur Natur des Higgs-Bosons und seiner Bedeutung für das „aktuell gültige Weltbild“ der Teilchenphysik, das Standardmodell, seien diese Quellen empfohlen:

Also, was hat es mit den ganzen „sigma“ auf sich, und warum scheint ausgerechnet 5 sigma – mit griechischer Tastatur zu Hand hätte ich korrekterweise 5σ geschrieben –  eine magische Grenze zu sein, gerade so als ginge es um die 5%-Hürde bei einer Bundestagswahl? Dazu hole ich mal ein bisschen aus und erzähle, wie Teilchenexperimente mit Beschleunigern eigentlich funktionieren:

(Disclaimer: Bei der Produktion dieses Blogpost kamen keine Kraftfahrer zu Schaden!)

Man stelle sich vor, wir wollten das Innere eines LKW-Motors untersuchen, aber die Heisenbergsche Unschärferelation verbietet es uns, den LKW einfach aufzumachen und reinzuschauen. Das ist ausgesprochen ärgerlich, aber mit absoluter Sicherheit nicht zu ändern. Was bleibt uns übrig? Nun, die Unschärferelation erlaubt uns Untersuchungen des LKW, aber nur solange er schnell unterwegs ist – sagen wir mal mindestens 300 km/h. Bei der Fahrt Draufsetzen und Reinschauen ist aber nicht drin, denn wir haben es nicht mit einem richtigen LKW, sondern mit einer Analogie für ein Proton zu tun, und Protonen zu reiten ist noch niemandem gelungen.

Also beschleunigen wir die LKW auf 300 km/h und lassen sie ineinander rasen – einen von jeder Seite, mit einer relativen Aufprallgeschwindigkeit von 600 km/h. Da ergeht es den Protonen nicht anders als unseren symbolischen LKW: Wenn sie aufeinandertreffen, sind sie Matsch.

Ein Schwarzweißfoto von Werner Heisenberg

Werner Heisenberg (1901–1976), kein Freund von LKW. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1986-0310-501 / CC-BY-SA 3.0 Deutschland

Aber die umherfliegenden Trümemrteile erlauben uns einen Rückschluss darauf, was im Motor war! Dreihundertvierundzwanzig Schrauben in sechzehn Größen werden nach der Kollision von der Autobahn aufgesammelt, ein Kolben hat einen Baum durchschlagen und die Kurbelwelle steckt in einem Brückenpfeiler – wenn man das oft genug macht, bekommt man ein Bild von der Zusammensetzung und sogar der Funktionsweise des Motos. Das klingt verrückt, aber so und nicht anders war es möglich, das Innere von Protonen zu untersuchen, was übrigens maßgeblich am DESY in Hamburg mit Proton-Elektron-Kollisionen gelang.

Okay, nun haben wir also auf die umständlichst mögliche Weise ein Bild vom Inneren des LKW-Motors gewonnen, weil ein gewisser Herr Heisenberg uns nichts anderes erlaubt. Aber was lernen Teilchenphysiker wirklich aus den Kollisionen von Protonen? Erfahren wir nur, was im Proton steckt, oder gibt es noch mehr zu erfahren?

Nun, da die Kollision das Proton nicht intakt lässt – Physiker sprechen von inelastischen Kollisionen – , können sich aus der „Energiesuppe“, die im Moment der Kollision am Ort des Aufpralls entsteht, alle möglichen Teilchen bilden. Das ist großartig für uns, weil wir nur handelsübliche Protonen (leicht aus Wasserstoff zu gewinnen) zur Kollision bringen müssen als Resultat auch exotische Teilchen beobachten können, die sehr seltene Materiearten enthalten oder nur extrem kurze Lebenszeiten haben. So kommt es, dass man außer den beiden Arten von Quarks – den bisher kleinsten bekannten Materiebausteinen – die sich in Protonen tummeln, nämlich den up- und down-Quarks, auch die charm-, strange-, bottom- und top-Quarks und jede Menge Kombinationen von ihnen gefunden hat und untersuchen konnte.

Luftbild des Fermilab-Forschungszentrums, große ringförmige Betonstrukturen in einer grünen Landschaft.

Luftbild des Tevatron-Beschleunigers am Fermilab-Forschungszentrum in Illinois, USA. Er erreichte etwa 7% der Kollisionsenergie des LHC am CERN.

Okay, aber warum braucht es immer größere Maschinen, wenn doch aus Proton-Kollisionen offenbar schon alles zu erfahren ist? —Hier kommt ein anderer wohlbekannter Physiker ins Spiel, der für eine frech herausgestreckte Zunge und die wahrscheinlich bestbekannte Formel der Teilchenphysik berühmt ist. Wegen der von ihm postulierten Gleichheit von Energie und Masse können unsere Kollisionen auch Teilchen erzeugen, die viel schwerer als Protonen sind, wenn wir den Protonen nur genug Energie mitgeben! Das wahrscheinlich gefundene Higgs-Teilchen ist zum Beispiel fast 70 mal schwerer als zwei Protonen zusammen.

Wenn wir also Teilchen mit immer größerer Masse sehen wollen – und das mutmaßliche Higgs ist mit Abstand das schwerste bisher beobachtete Elementarteilchen – dann müssen wir Anlagen bauen, die den Protonen immer größere Energie mitgeben, und das erfordert auch immer größere Maschinen.
Update: Die durchgestrichene Behauptung stimmt gar nicht, da habe ich mich beim Nachschauen vertan. Das top-Quark ist etwa 35% schwerer als das Higgs und das nächstleichtere Teilchen, das Z0-Boson, hat etwa 66% der Higgs-Masse.

Na gut, na gut. Jetzt haben wir also Kollisionen, bei denen jede Menge Kram entsteht. Aber wie findet man da etwas Neues, und was sollen diese sigma? —Ganz einfach: Man vergleicht das, was man erwarten würde mit dem, was man tatsächlich sieht. Sieht man etwas Unerwartetes, hat man etwas Neues entdeckt. Gehen wir zur Veranschaulichung mal zurück zum LKW-Motor:

Angenommen, es kommt ein Theoretiker daher und postuliert: In dem LKW-Motor sind Maiskörner eingeschweißt. Das wollen wir überprüfen! Er sagt, wir haben sie bis jetzt nicht gefunden, weil sie bei unseren geringen Aufprallenergien nicht austreten. Bei zu großen Aufprallenergien würden sie aber verbrennen. Also probieren wir verschiedene Energien aus, bis wir irgendwann am Ort der Kollision Popcorn entdecken. Aha! Popcorn kann nur aus Maiskörnern entstanden sein. Wenn wir dieses Ergebnis zuverlässig immer wieder mit der gleichen Energie produzieren können, hatte der Theoretiker wohl recht.

Im echten Leben ist das etwas komplizierter, aber man kann sich sogar eine echte Grafik aus einer Veröffentlichung der CMS-Kollaboration mit diesen Begriffen erklären:

Entdeckung des Ξ*b0-Teilchens durch das CMS-Experiment am CERN.

Von links nach rechts wird die Energie der Kollisionen aufgetragen – je weiter rechts, desto schneller der LKW. Die schwarzen Punkte sind die Messpunkte – praktisch eine Zählung von Kollisionsereignissen mit dem gesuchten Ergebnis: je weiter oben, desto häufiger kam Popcorn raus.

Die rote Linie zeigt nun die Ereignishäufigkeit, die man erwarten würde, wenn die Theorie nicht zuträfe – also ein Motor ohne Maiskörner. Tatsächlich sieht man aber bei einer bestimmten Energie plötzlich eine Häufung von Ereignissen anhand der schwarzen Punkte, die nach oben wandern – es taucht reichlich Popcorn auf! Die blaue Linie könnte dann eine neue Erklärung sein – quasi ein Motor-Modell, das die Maiskörner mit einbezieht und das Auftreten von Popcorn korrekt voraussagt. So einen „Buckel“ in der Verteilung der schwarzen Punkte nennen Physiker peak, und jeder Teilchenphysiker träumt davon, einen eigenen Peak zu entdecken.

Eine Schüssel Popcorn

Mögen mir meine Professoren diese Analogien verzeihen! Foto: „Popcorn“ von cyclonebill auf Flickr, CC-BY-SA 2.0

Okay, wir haben’s fast – was bedeutet jetzt sigma (griechischer Buchstabe σ)? Nun, manchmal verzählen sich auch Teilchenhysiker, oder der Zufall spielt ihnen einen Streich – so wie man manchmal fünf Einsen hintereinander würfelt und sich denkt, der Würfel müsste gezinkt sein, ohne dass das tatsächlich der Fall ist. Um das auszuschließen, analysieren die Physiker ihre Instrumente sehr gründlich und rechnen aus, was für Abweichungen (auch „Fehler“ genannt) ihre Maschinen und Zählweisen so verursachen können. In dem Graphen des CMS-Experiments oben sind das übrigens die schmalen Balken an den schwarzen Punkten, auch „Fehlerbalken“ genannt.

Je weiter die vermeintliche Entdeckung dann vom Ausmaß dieser Fehler entfernt ist, desto bedeutender – signifikanter sagt der Physiker – ist sie. Irgendwann, bei einer großen Abweichung von ein paar σ sind sich dann alle einig, wirklich etwas entdeckt zu haben, und nicht einem statistischen Fehler aufgesessen zu sein:

Abweichung von der Erwartung (entspricht Höhe des Peaks) Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um einen statistischen Irrtum handelt
68,269%
95,450%
99,730%
99,994%
4,5σ 99,999321%
99,999943%

Update: Ein Physiker-Kollege weist mich darauf hin, dass ich das so einfach nicht sagen kann, und er hat recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Fehler handelt, kann unmöglich für einen einzelnen Peak angegeben werden, sonst wäre in einem Datensatz mit 20 Peaks mit 2σ-Signifikanz nur einer ein Fehler. Das sieht in der Praxis aber ganz anders aus, 2σ-Ereignisse tauchen ständig auf und verschwinden wieder. Richtiger ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass an einer gewissen Stelle zufällig ein Peak entsteht genau wie wir ihn sehen, ist 1 minus den Wert nach der Tabelle oben – für ein 2σ-Ereignis also 4,55%, für ein 4σ-Ereignis 0,006% und so weiter.

Die magische Grenze in der Teilchenphysiker-Gemeinschaft sind – mit Recht, wie man sieht – 5σ. Wer etwas mit 5σ Signifikanz beobachtet, der kann eine Entdeckung geltend machen. Darunter kann man auch oft recht sicher sein, aber es hat auch schon Veröffentlichungen gegeben, die sich mit 3σ in die Nesseln gesetzt haben und deren Ergebnisse nicht bestätigt werden konnten. Deshalb sind alle Physiker sehr vorsichtig mit Ergebnissen unter 5σ.

Letzten Herbst waren die beiden Experimente CMS und ATLAS am CERN – die zwar beide den LHC-Beschleuniger benutzen, aber völlig voneinander unabhängige Maschinen Kilometer voneinander entfernt sind – mit etwa 2–3σ dabei, bei der gleichen Energie ein Teilchen wie das Higgs gesehen zu haben. Das ist ein guter Hinweis, aber eben nicht gut genug.

Heute nun haben beide Experimente – je nach Zählweise – Ergebnisse von 4,9–5σ präsentiert. Das wichtigste ist, dass sie sich dabei nicht auf eine einzige Art der Higgs-Erkennung stützen, sondern verschiedene „Kanäle“ nutzen: Sie achten bei den LKW-Kollisionen nicht nur auf Popcorn, sondern auch auf Pfefferminztee und Himbeermarmelade, die alle mit ihrer eigenen theoretischen Erklärung auf das Higgs-Boson zurückzuführen sind (auf das Higgs bezogen spricht man zum Beispiel vom gamma-gamma-Kanal oder dem 4-Lepton-Kanal). All diese Analysen der verschiedenen Kanäle zusammengenommen ergeben dann eine Signifikanz, die die heiß ersehnten 5σ erreicht – ganz zu schweigen von der Kombination der Ergebnisse beider Experimente in einen einzigen Datensatz, die heute noch nicht präsentiert wurde.

Alles in allem sind die Teilchenphysiker, Ingenieure und Theoretiker enorm glücklich und stolz auf diese Ergebnisse und die Performance des LHC und der Experimente CMS und ATLAS. Nicht nur am CERN, wie hier im Bild, haben deshalb heute viele Männer und Frauen diese Entdeckung ausgelassen gefeiert, und auch ich freue mich riesig für sie.

Ein Hörsaal voller stehen applaudierender Menschen.

Standing Ovations für CMS und ATLAS am CERN heute morgen. Foto: CERN

12 Kommentare
  1. Laura sagte:

    Wenn ich wieder ein Leben habe (7 days and counting) les ich den Post, und du kannst sicher sein, ich bin die ultimative Härteprobe für jeden naturwissenschaftlichen Erklärbarversuch! Ach, die Sigmatabelle hab ich mir aber schon angeschaut, und bin dankbar dass wir uns mit 95% Fehlerwahrscheinlichkeit zufrieden geben, ich glaub sonst müsst ich weinen bei meiner Examensarbeit ^^

  2. Lieber Blogschreiber, darf ich dazu eine Frage stellen? Ich bin ein sehr sehr, einfacher Proletarier und frage mich bei allen Dingen immer nach dem Nutzen, zu welchen Erfindungen, die unser aller Leben beeinflussen (möglichst positv, atomenergie war ja nicht so ganz toll und hatte auch was mit Teilchen zu tun) könnte den die Cernentdeckung führen?
    Und bitte nicht bloss, zum erklären der Entstehung der Welt, die dreht sich nämlich auch ohne dieses Wissen weiter und hat, lass mich schadlos an den afrikanischen Kindern halten, genug andere echte Probleme.

    • Michael Büker sagte:

      Die einzig mögliche Antwort ist die anscheinend unerwünschte Antwort – nämlich, dass es um das Verständnis der Zusammensetzung und Entstehung des Universums geht. Ich finde es schade, wenn Menschen keinerlei Interesse an der Beantwortung dieser Fragen haben.

      Es ist aber völlig unmöglich, mit dem Betreiben von Wissenschaft „erstmal aufzuhören“, bis die Probleme von Armut, Ungleichheit und Ausbeutung „endgültig gelöst sind“. Wissenschaft findet unter Menschen in freien Gesellschaften praktisch von allein statt, genau wie Religion, Kultur oder Sport.

      Darüber hinaus ist die Wissenschaft wahrscheinlich einer der wichtigsten Verbündeten bei der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit. Zwar ist der Ursprung des Internets als Netzwerk von Computern militärischer Natur, doch das WWW, also das Anzeigen von Internetseiten wie es heute täglich Milliarden Menschen nutzen, wurde von einem Physiker am CERN entwickelt (nämlich Tim Berners-Lee).

      Wenn das Web als Nebenprodukt der Teilchenforschung nicht ein unschätzbarer Beitrag für Gleichheit, Verständigung und Fortschritt in der Welt ist, dann weiß ich auch nicht.

      • „Wissenschaft findet unter Menschen in freien Gesellschaften praktisch von allein statt“ – das ist ne coole These. Ich habe mal einen wunderschönen IMAX-Film gesehen über ein europäisches Teleskop irgendwo in Südamerika, dort hatten sie einen einheimischen Ingenieur zur wartung eingestellt, der in einem Interview sagte, er kam, glaube ich, aus dem Bergbau, das erste was er hatte lernen müssen, das Geld und Wirtschaftlichkeit keine Rolle spielt.

  3. k. Bayer sagte:

    Ich hab eine Frage die wahrscheinlich vollkommen unsinnig sein kann, aber wer weiß. Würde mich sehr über eine Antwort freuen. Gibt es irgendein Anzeichen dafür, dass bei der Kollision Energie verschwindet? Müsste dann verhältnismäßig sehr viel sein. Also ich will nur sehr gerne wissen, ob irgendwohin Energie verschwunden ist. Hoffe sehr auf Antwort. Beste Grüße – K. Bayer

    • Michael Büker sagte:

      Hallo! Nach den Messungen der kollidierenden Teilchen und den enorm feinen Instrumenten um den Kollisionspunkt herum sind die Teilchenphysiker sicher, dass keine Energie verschwindet. Es gibt eine Art von Teilchen, die nicht von den Instrumenten gemessen werden kann, aber das sind „alte Bekannte“: die Neutrinos, die manchmal einen kleinen(!) Teil der Energie tragen. Mit den Teilchen, gemessen werden und den Neutrinos, die nicht gemessen werden können aber wohlbekannt sind, ist alle Energie „abgedeckt“. Fehlende Energiebeträge würden auffallen und mit großem Interesse untersucht werden, aber sie kommen meines Wissens nicht vor.

      • k. Bayer sagte:

        Kann es sein, das man nicht die Energie oder nicht das Feld gemessen hat, sondern die Energie die verschwindet?

        • Michael Büker sagte:

          Nein, allen Erkenntnissen der Physik nach ist es unmöglich, dass Energie einfach verschwindet. Wenn sie in einem Detektor gemessen wird, wird sie im Detektor umgesetzt, z.B. in Strom, Licht oder Wärme (so ist deren Funktionsrinzip).

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